Wie die Anarchisten über die Haltung zum Russland-Ukraine-Krieg streiten

Pazifismus Der russische Überfall der Ukraine und dessen Folgen sorgen für harte Auseinandersetzungen auch bei denen, die Staat und Militär eigentlich rundherum ablehnen: Anarchisten. Manch einer vermisst die Bereitschaft zur inhaltlichen Debatte

Die für die nächsten Monate erwartete Abspaltung bei der Linkspartei wird durch die unterschiedliche Haltung zum Ukraine-Konflikt wesentlich befeuert. Doch auch in der außerparlamentarischen Linke sorgt die Frage der Positionierung zum russischen Krieg in der Ukraine für Streit und Ausschlüsse.

Eigentlich wäre zu denken, Anarchisten und Anarchistinnen fällt die Positionierung zu Krieg einfach – schließlich lehnen sie Staatsgewalt und damit auch Polizei und Militär grundsätzlich ab. Daher wäre zu erwarten, dass sie Nationalismus und Krieg auf beiden Seiten verurteilen und sich vor allem für die verfolgten Deserteure, Kriegs und Militärgegnerinnen in allen Ländern einsetzen. Diese Position teilen libertäre und anarchistische Pazifist*innen in vielen Ländern. Sie sind im transnationalen Netzwerk War Resisters International (WRI) organisiert, das in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen gefeiert hat.

Die „Graswurzelrevolution“ und der Krieg
Die Zeitschrift Graswurzelrevolution (gwr) hat dem WRI-Jubiläum eine Sonderausgabe gewidmet. Schließlich ist die Zeitung seit 1972 das wichtige Organ der Pazifisten und Gewaltfreien mit libertärer Ausrichtung. Weil die gwr bis heute an ihren staats- und machtkritischen Positionen festhält, wird sie im Verfassungsschutzbericht gelistet und gerät auch immer wieder ins Visier der Rechten. Aber auch manche ehemaligen Mitstreiter wollen spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine nichts mehr von Pazifismus wissen und kündigen das Abonnement.

Dafür konnte die gwr aber viele neue Leser und Leserinnen gewinnen, gerade weil sie die an ihrem Grundsatz festhält, dass kein Staat und kein noch so hehres Ziel es wert ist, dass Menschen gezwungen werden, in den Krieg zu ziehen, andere Menschen zu erschießen und selber zu sterben. Dabei betonen die Kriegsgegner, dass ihre Position nichts mit Kapitulation vor einem Aggressor zu tun hat. Sie verweisen auf Konzepte der sozialen Verteidigung, zu denen auch gehört, jegliche Zusammenarbeit mit Organen und Behörden des Aggressors zu verweigern.

Dieser Argumentation wird dann schnell entgegengehalten, dass ein solcher gewaltfreier Widerstand gegen die russische Armee zu lange dauern und viele Opfer fordern würde. Doch die reale Entwicklung in der Ukraine liefert den Gegnerinnen des Kriegs durchaus Argumente. Die militärische Auseinandersetzung hat sich längst zu einem blutigen Stellungskrieg entwickelt, bei dem um jeden Zentimeter Boden erbittert gekämpft wird, mal mit kleinen Geländegewinnen – ein Dorf oder nur ein Haus – für die ukrainische, mal für die russische Seite. Die wenig thematisierte große Zahl von Todesopfern betrifft meist Männer, die auf beiden Seiten oft gar nicht freiwillig in den Krieg gezogen sind. Unter Anarchisten und Anarchistinnen wäre wohl eine Debatte darüber zu erwarten, welcher Weg die wenigsten Opfer fordert.

Streit beim Sommerkongress in Saint Imier
Doch davon kann keine Rede sein. Die Fronten haben sich vielmehr verhärtet, wie sich im Sommer in Saint Imier zeigte. In dem kleinen Ort im Schweizer Jura trafen sich Mitte Juli Anarchist*innen und Libertäre aus aller Welt – vor 150 Jahren war hier die Antiautoritäre Internationale gegründet worden. Schnell zeigte sich die Frage der Positionierung zum Krieg in der Ukraine als großes Konfliktthema.

„Antimilitarismus hatte es schwer in Saint Imier“, sagt Gerald Grüneklee rückblickend. Der anarchistische Verleger und Autor monierte ein großes Transparent auf dem Kongress: Auf diesem prangte unter den Konterfeis von Anarchisten, die als Teil der ukrainischen Armee kämpften und gestorben sind, der Spruch: „Gefallen im Kampf gegen den russischen Imperialismus und für die Anarchie“. – „Doch Soldaten fallen nicht, sie morden und werden ermordet“, sagt Grüneklee. Er erinnerte daran, dass der Begriff „Gefallene zur Verharmlosung und Glorifizierung von staatlichem Mordhandwerk“ herhalten muss.

Eine Antimilitaristin schildert, was sie erlebte
Aber solche antimilitaristischen Töne waren bei den Anarchist*innen nicht willkommen, die in der Ukraine kaum mehr Kritik an Staat und Nation kennen. Das musste eine Transperson erfahren, die auf einer Solidaritätsveranstaltung mit in der ukrainischen Armee kämpfenden Anarchist*innen ein Plakat mit der Parole „Für eine antifaschistische und antipatriarchale Antikriegsbewegung“ aufhängen wollte. Sie schildert, wie das Plakat nach kurzer Zeit mehrmals heruntergerissen wurde. In der folgenden erregten Debatte wurde sie aufgefordert, die Veranstaltung zu verlassen. Sie könne in Russland ihre soziale Revolution machen, wurde ihr zugerufen.

„Ein Plakat mit der Parole ,Gegen jeden Krieg‘, das aus einer queeren, antimilitaristischen, anarchistischen, migrantischen und feministischen Position kommt, wurde von Menschen zensiert und als Provokation empfunden, weil es ihre militarisierte Position und Identitätspolitik zum Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine in Frage stellt“,, so das Resümee der Antimilitaristin.

Die Ansage von Anarchist Black Cross Dresden
Im Nachgang des Treffens von Saint Imier schrieb die Gruppe Anarchist Black Cross (ABC) Dresden, die den Kongress mitorganisiert hatte, auf ihrer Internetseite: „Die Diskussion wurde, ähnlich wie frühere Veranstaltungen, bei denen Menschen antiautoritäre oder anarchistische Aktivist*innen unterstützen, die sich der Verteidigung gegen die russische Invasion angeschlossen haben, mehrmals von Pazifist*innen oder anderen unterbrochen, die nicht wollten, dass eine Diskussion über die Komplexität des Beitritts zu den territorialen Verteidigungskräften Raum erhält.“

Doch beendet ist die Auseinandersetzung damit nicht. Die Gewaltfrage war unter Anarchisten schon immer hochumstritten. Doch in der Ablehnung von Staatsgewalt und Militär schien man sich doch einig. In der Mitte September erschienenen Ausgabe der graswurzelrevolution fragt nun Gerald Grüneklee: „Führt die massenmediale Hetze gegen sogenannte Lumpenpazifisten bei einigen Anarchist*innen zur Abkehr vom Antimilitarismus?“ Der anarchistische Verleger beklagt, dass manche Kriegsgegner*innen beim Schweizer Kongress die inhaltliche Auseinandersetzung scheuten, weil man keinen Streit in die anarchistische Familie tragen wollte.

Pjotr Kropotkin und das „Manifest der Sechzehn“
Das hält Grüneklee für einen Fehler: „Wo die antimilitaristisch gesonnenen Menschen in Saint Imier Scheu hatten, Militärpropaganda schlicht zu entfernen und damit den offenen Konflikt vermieden, trat die militaristische Fraktion wortgewaltig auf und hatte keinerlei Skrupel, Antimilitarist*innen verächtlich zu machen und antimilitaristische Plakate abzureißen.“ Für ihn und andere Antimilitarist*innen waren die Auseinandersetzungen in Saint Imier aber auch ein Weckruf, ihre Positionen verstärkt in anarchistische Kreisen zu tragen.

Dazu würde auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gehören. Auch im Ersten Weltkrieg hatten sich bekannte Anarchisten an der Frage der Kriegsbeteiligung zerstritten. 16 von ihnen, aus verschiedenen Ländern, darunter Pjotr Kropotkin, veröffentlichten 1916 ein Manifest, das die Niederlage Deutschlands zur Hauptaufgabe erklärte und zur Unterstützung der Gegner Deutschlands aufrief. Viele Kritiker*innen sahen darin einen Bruch mit anarchistischen Prinzipien. Angesichts des aktuellen Streits um den Krieg in der Ukraine schrieben Anarchist*innen aus Bulgarien an ihre Genoss*innen in verschiedenen Ländern: „Anarchistische Schwestern und Brüder, wiederholen Sie nicht den Fehler des alten Pjotr Kropotkin aus dem Jahr 1916, seines ‚Manifests der Sechzehn‘ während des Ersten Weltkriegs.“

Peter Nowak hat im vergangenen Jahr unter anderem mit dem in diesem Text zitierten Gerald Grüneklee das Buch Nie wieder Krieg ohne uns… Deutschland und die Ukraine veröffentlicht – in dem die beiden nicht einer Meinung sind.

https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/wie-die-anarchisten-ueber-die-haltung-zum-russland-ukraine-krieg-streiten

connection.png

passiert am 22.09.2023